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Digitalisierung im Nfz 3. August 2022

Augen geradeaus!

Intelligente Fahrerassistenzsysteme (FAS) sollen zukünftig die Zahl der Unfälle deutlich reduzieren. Das geht aber nur, wenn die Systeme ordnungsgemäß kalibriert und justiert sind. Im Werkstattalltag kommt der Nutzfahrzeug-Profi immer öfter damit in Kontakt, auch wenn er nicht direkt daran arbeitet.

Radarsensoren und Multifunktionskameras sind die „Argusaugen“ moderner Fahrerassistenzsysteme (FAS) in Lkw und Bussen. Doch nur wenn sie korrekt justiert und ordnungsgemäß kalibriert sind, lassen sich damit tödliche Unfälle vermeiden.
Radarsensoren und Multifunktionskameras sind die „Argusaugen“ moderner Fahrerassistenzsysteme (FAS) in Lkw und Bussen. Doch nur wenn sie korrekt justiert und ordnungsgemäß kalibriert sind, lassen sich damit tödliche Unfälle vermeiden.

Die moderne Technik leistet Gewaltiges. Davon konnte sich der Autor dieses Artikels beim „Global Technology Day“ von ZF im Juli 2022 auf der unternehmenseigenen Teststrecke in Jeversen bei Hannover überzeugen. Bei dem Event im Vorfeld der IAA Transportation präsentierte der Technologiekonzern den aktuellen Stand seiner Intelligenten Fahrerassistenzsysteme (FAS). Die Entwickler der vor rund sechs Monaten neu gegründete ZF-Division „Commercial Vehicle Solutions“ (CVS) hatten zahlreiche neue Sicherheitstechnologien in den „ZF Safety Innovation Truck“ genannten Technologieträger gepackt. Bei dem Demonstrationsfahrzeug handelt es sich um eine Lkw-Anhänger-Kombination auf Basis einer Scania-Zugmaschine und einem modifizierten Sattelauflieger. Für die Demonstrationsfahren brachte der Zug samt Ladung ziemlich exakt 40 Tonnen auf die Waage.

Herzstück des „ZF Safety Innovation Truck“ ist der „Highway Assist“. Er basiert auf dem „OnGuardMax“, dem fortschrittlichsten autonomen Notbremssystem aus dem ZF-Portfolio. Der Highway Assist umfasst unter anderem die adaptive Geschwindigkeitsregelung ACC (Adaptive Cruise Control) und den Spurhalteassistenten CLKA (Continuous Lane Keeping Assist). Beide zusammen ermöglichen eine automatisierte Führung in Längs- und Querrichtung nach Level 2.

Zusätzlich verfügt der Innovationsträger über die neue modulare und skalierbare Bremssystem-Plattform „mBSP XBS“ sowie das „Hands-on-Detection“-Lenkrad mit besonders präzisen Sensorfunktionen. Laut ZF-Vorstand Wilhelm Rehm, unter anderem verantwortlich für die Division Commercial Vehicle Solutions, kann der Innovation Truck mit weiteren, integrierten Bremseingriffsfunktionen aufwarten, welche sogar die seit kurzem geltenden Vorgaben der General Safety Regulations (GSR) übertreffen. Als Beispiele nannte Rehm den „Aktiven Anfahrassistenten“, der Kollisionen mit vor dem Fahrzeug befindlichen Personen vermeidet, den fortschrittlichen Rückfahrassistenten, der Kollisionen beim Rückwärtsrangieren verhindert, sowie das „Blind Spot Information System“ (BSIS), welches Personen, speziell Radfahrer, auf der Beifahrerseite schützt.

Extrem wichtige Umfeldsensoren

Es ist schon beeindruckend, wenn man auf dem Beifahrersitz sitzt und sich der 40-Tonner mit einer Geschwindigkeit von bis zu 80 km/h auf ein stehenden Hindernis – eine klassische Stausituation auf der Autobahn – zurauscht, um dann wenige Meter davor wie von Geisterhand eine autonome Notbremsung bis zum Fahrzeugstillstand einzuleiten. Damit das fehlerfrei klappt, müssen Multifunktionskameras sowie Lidar- und Radar-Sensoren dem FAS-Steuergerät alle relevanten Informationen zu Position, Entfernung und Geschwindigkeit des erkannten Hindernisses liefern. Aus diesen Daten berechnet schließlich ein komplexer Algorithmus in Sekundenbruchteilen ein Manöver, bei dem der Truck ohne Brems- oder Lenkeingriff des Fahrers den lebensrettenden (Brems)Anker „wirft“.

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Diese so genannten „Umfeldsensoren“, dazu gehören beispielsweise Radar-, Lidar-, Infrarot-und Ultraschallsensoren sowie Mono-, Stereo- und Multifunktionskameras, sind die Schlüsselkomponenten aller FAS. Der Großteil dieser „modernen Argusaugen“ befindet sich an der Fahrzeugfront, beispielsweise hinter der Windschutzscheibe und der Frontverkleidung. Essentiell für die korrekte Funktion der Sicherheitssysteme ist, dass speziell der Radarkopf und die Multifunktionskamera (MFK) exakt nach Herstellervorgabe justiert und vorschriftsmäßig im FAS-Steuergerät kalibriert sind. Das gilt sowohl für die erstmalige „End of Line“ (EoL)-Kalibrierung, bevor das Nutzfahrzeug die Werkshallen verlässt, wie auch für die spätere Einstellung und Kalibrierung in der Werkstatt.

Seit dem 5. Januar 2020 gilt in allen EU-Mitgliedstaaten die EU-Verordnung 2019/2144 . Damit wächst die Zahl der vorgeschriebenen FAS nochmals deutlich.
Seit dem 5. Januar 2020 gilt in allen EU-Mitgliedstaaten die EU-Verordnung 2019/2144 . Damit wächst die Zahl der vorgeschriebenen FAS nochmals deutlich.

Gefährliche Fehlstellungen

Bei dieser Justier-und Kalibrier-Prozedur geht es sehr genau zu, denn bereits geringste Abweichungen von der Solleinstellung können fatale Folgen haben. Erfasst beispielsweise ein verstellter Radarsensor des ACC ein langsameres Fahrzeug auf einer benachbarten Fahrspur, löst das ACC-Steuergerät einen unnötigen Bremsvorgang aus, was nachfolgende, nicht darauf vorbereitete Verkehrsteilnehmer in gefährliche Situationen bringen kann. Gleiches gilt für die Multifunktionskamera: „schielt“ diese in die falsche Richtung, kommt es im Steuergerät zu einer Fehlinterpretationen – und damit zu einer Fehlfunktionen des FAS. Darüber hinaus zeigt sich immer wieder: Nur wenn ein FAS korrekt und unzweifelhaft funktioniert, nimmt es der Fahrer an und deaktiviert es nicht, weil es „nervt“ und den Trucker aufgrund des immer wieder notwendigen, manuellen Nachkorrigierens eher be- denn entlastet.

Aufgrund der steigenden Ausstattungsquote mit FAS sieht sich der Nutzfahrzeug-Profi immer öfter mit diesen Systemen und ihren Umfeldsensoren konfrontiert – speziell auch dann, wenn er nicht direkt an den Systemen arbeitet. „Deshalb müssen Werksattfachleute dringend entsprechend sensibilisiert werden“, fordert Hendrik Harenbrock, Nutzfahrzeug-Trainer im HBZ Münster, der auf der Automechanika 2022 interessierte Fachbesucher in einem rund zweistündigen Praxis-Workshop intensiv in dieses wichtige Thema einweiht.

Eine Überprüfung der Sensorjustage und die Neukalibrierung des Systems sind unter anderem immer notwendig:

  • nach einem Windschutzscheibentausch,
  • nach einem Sensor- oder Steuergeräte-Ersatz,
  • nach einer Änderung des Fahrniveaus,
  • nach dem Anbau von Rädern, die von der Serien-Dimension abweichen,
  • nach einer Unfallinstandsetzung oder nach Reparaturen, bei denen der Sensor ausgebaut wurde,
  • nach Reparaturen am Fahrwerk mit anschließender Vermessung,
  • wenn ein Fehlercode wie ‚Keine oder falsche Grundeinstellung‘ abgelegt ist,
  • wenn der Fahrer „ein komisches Fahrverhalten“ bemängelt oder das Regelverhalten des FAS moniert.

Justieren und kalibrieren in neun Schritten

Ausschlaggebend für eine einwandfreie Systemfunktion ist die Ausrichtung der Umfeldsensoren, entweder zur Fahrzeuglängsachse, der sogenannten „Geometrischen Fahrachse“, oder zur Fahrzeugmittellinie. Welches die „richtige“ Bezugsachse ist, gibt der Fahrzeughersteller vor. Für die Grundeinstellung der Umfeldsensoren ist ein optisches Einstellsystem, ähnlich einem Achsmessgerät, notwendig. Damit wird der Justagebalken mit Skala für den Radarkopf beziehungsweise die reflektierende, fahrzeugspezifische Kalibriertafel für die MFK exakt nach Herstellervorschrift an der jeweiligen Bezugsachse und im vorgeschriebenen Abstand zum Fahrzeug ausgerichtet. Nach der optischen Justage des Sensorkopfs ist noch die Grundeinstellung des Systems mit einem geeigneten Hersteller- oder Multimarken Diagnosegerät erforderlich, um die Prozedur fachgerecht abzuschließen. Man spricht dabei von „kalibrieren“.

Im Folgenden sind beispielhaft die wichtigsten Arbeitsschritte für das Justieren und Kalibrieren von Radarköpfen und MFK beschrieben:

Schritt 1: Betreffendes Fahrzeug in der Diagnose-Software auswählen. Damit stehen dem Werkstattfachmann über die ‚Help‘-Funktion der IDC5-Software alle notwendigen fahrzeugspezifischen Angaben zum Einstellungs- und Kalibriervorgang inklusive der Anleitung zum Aufstellen des Kalibrierstands zur Verfügung.

Schritt 2: Fahrzeug nach Herstellervorgaben konditionieren: Reifenfülldruck, Druckluftsystem gefüllt, Fahrniveau, Lenkradstellung, Kabine verriegeln, Rahmenneigung ermitteln, Beladung, et cetera.

Schritt 3: Radaufnehmer mit Laser und Skalen an den Hinterrädern anbringen.

Schritt 4: Messtraverse im vorgeschriebenen Abstand vor dem Fahrzeug platzieren und zentrieren, dann parallel zur Hinterachse ausrichten.

Schritt 5: Messtafel für Radarsensor (unten Mitte) einrichten und optische Kalibriertafel für Multifunktionskamera (rechts oben) auf die vorgeschriebene Entfernung und Höhe bringen.

Schritt 6: Radarsensor horizontal und vertikal justieren. Laserpunkt muss die in der Software vorgeschriebenen Felder der Messtafel treffen.

Schritt 7: Kalibriervorgang des Radarsensors laut Anweisung der Software mit Diagnosegerät abschließen.

Schritt 8: Kalibriervorgang für Multifunktionskamera laut Anweisung der Software mit Diagnosegerät abschließen. Bild: Texa

Schritt 9: Probefahrt (ggf. vorher sämtliche FAS-Fehler löschen), abschließend Fehlerspeicher auslesen.

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