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Feinstaubemissionen 26. April 2024

„Wir werden keine Bremsstaubfilter sehen“

Die Euro-7-Norm erfasst erstmals auch den Abrieb von Reifen und Bremsen. Wie getestet wird und welche Auswirkungen die Norm auf die bewährte Bremstechnik hat, erfahren Sie im amz-Interview mit Vincenzo Di Caro von TMD Fricition.

Der Großteil des Feinstaubs entfällt auf Reifen- und Bremsenabrieb. Bei der Bremsscheibe ist es vor allem die Scheibe selbst.
Der Großteil des Feinstaubs entfällt auf Reifen- und Bremsenabrieb. Bei der Bremsscheibe ist es vor allem die Scheibe selbst.

Ein Großteil der Feinstaubemissionen stammt nicht vom Verbrennungsmotor, sondern ist Abrieb von Reifen und Bremsen. Entsprechend hat der Gesetzgeber in der Neuregelung der Euro-7-Norm diesen Aspekt erstmals mitaufgenommen. Wir haben bei Vincenzo Di Caro, Senior Manager Vehicle Programme – IAM bei TMD Friction nachgefragt, welche Folgen die Richtlinie für die Bestandsfahrzeuge hat.

Herr Di Caro, die Euro-7-Norm sieht eine Obergrenze von 3 Milligramm Feinstaubausstoß bei rein elektrischen Fahrzeugen und 7 Milligramm für Hybride und Verbrenner vor – sind die 3 mg  für Stromer viel oder wenig?

Di Caro: Nun, das kommt ganz auf das Fahrprofil an. Die Richtlinie sieht das Fahrprofil des WLTP Zyklus vor, den man schon von den Abgasemissionstests kennt. Man könnte ja aufgrund der Rekuperation vermuten, dass die Stromer die Hürde mit Leichtigkeit schaffen, aber dem ist nicht so. Die Grenzwerte werden auch für elektrische Fahrzeuge eine Herausforderung – wenn auch keine unlösbare.

Wie genau kann man sich eine Feinstaubmessung für die Bremse vorstellen?

Di Caro: Interessanterweise wird die Messung nicht am Fahrzeug durchgeführt, sondern an einem einzelnen Bremssattel in einem speziellen Bremsemissionsprüfstand, dessen Bremsscheibe durch eine E-Maschine angetrieben wird. An den Bremssattel ist eine Absaugung montiert, die die frei werdenden Partikel einsaugt und misst – ähnlich der Partikelmessung beim  Verbrennungsmotor. Der Elektromotor fährt den WLTP-Testzyklus nach und der Bremssattel steuert die vorgegebenen Verzögerungen ein.  

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Und wie wird unterschieden, wann das Fahrzeug rekuperiert und wann es wirklich verzögern muss?

Di Caro: Diese Festlegung ist aktuell mit die größte Herausforderung. Das sogenannte „Brake Blending“, also die Kombination aus konventioneller Verzögerung durch die Reibungsbremse und die Verzögerung durch den Elektromotor, kann beim Emissionstest nicht nachgestellt werden. Man arbeitet hier mit einem rechnerisch ermittelten Korrekturfaktor. Um diesen Faktor rechnet man die gemessene Emission runter, so als wenn es Rekuperationsbremsungen gegeben hätte, sodass das Emissionsergebnis, analog zu den realen Bremsbedingungen, niedriger ausfällt. Die ermittelten Werte werden dann mit den für reine E-Fahrzeuge bereits niedriger angesetzten Emissionsgrenzwerten verglichen.

Wie hoch sind die Emissionen bei einem vergleichbaren Verbrenner?

Di Caro: Bei Pkw und leichten Nutzfahrzeugen – egal ob Verbrenner oder Hybrid – liegt der neue Grenzwert bei 7 Milligramm pro Kilometer. Das ist zwar mehr als doppelt so hoch, aber in Anbetracht der fehlenden Rekuperation schon ein ambitioniertes Ziel. Stand heute sind die Emissionen, wohl bemerkt bei einem Standardbelag, der nicht auf niedrige Emissionen ausgelegt ist, um den Faktor zwei bis drei höher als das, was künftig erlaubt ist. Die neuen Emissionsgrenzen zu erfüllen ist eine Herausforderung, aber wir haben schon vielversprechende Ergebnisse erzielt und sind auf gutem Weg, pünktlich eine Euro-7-Lösung anzubieten.

Die Filtrationsbranche zeigte schon vor Jahren verschiedene Studien für Filter im und am Sattel – oder wie hier eine gekapselte Bremsscheibe.
Die Filtrationsbranche zeigte schon vor Jahren verschiedene Studien für Filter im und am Sattel – oder wie hier eine gekapselte Bremsscheibe.

Das ist ja schon eine Ansage. Lassen sich derart ambitionierte Ziele überhaupt mit veränderten Materialien erreichen oder führt an Bremsstaub-Filtern, wie Mann+Hummel sie bereits gezeigt hat, kein Weg vorbei?

Di Caro: Unser Auftrag seitens der OEMs ist ganz klar, wir entwickeln Lösungen ohne Filter. Denn ein Filter, der die Bremsscheibe umschließt, kostet nicht nur Geld, sondern benötigt auch Bauraum, sorgt für mehr ungefederte Masse, beeinflusst die Kühlung des Bremssystems und erhöht den Aufwand im Service. Alles keine Faktoren, die ein Fahrzeughersteller gerne sieht, wenn er auch darauf verzichten kann. Daher werden wir keine Bremsstaubfilter in Serie sehen.

Was sind die Alternativen zu Filtern?

Di Caro: Hartstoffbeschichtete Bremsscheiben, gepaart mit besonders abgestimmten Reibbelagmischungen. Der Großteil des Bremsenabrieb kommt ja von der Bremsscheibe – etwa 80 Prozent – der Belag macht einen weit geringeren Teil aus. Mit den härteren Scheiben können wir, kombiniert mit eigens für diese Scheiben entwickelten Belagmischungen, an der richtigen Stelle den Hebel ansetzen, um Emissionen zu reduzieren, ohne Abstriche bei der Brems-Performance in Kauf nehmen zu müssen. Und das ganz ohne Filter.

Hartstoffbeschichtungen kennt man von Bohrern und Fräswerkzeugen, die in der Regel recht teuer sind. Gibt es auch Alternativen zu hochwertigen, aber teuren Spezialbeschichtungen?

Di Caro: Das kommt auf den Einsatzbereich der Bremsscheibe an. Im klassischen Pkw ist die Verteilung der Bremskraft etwa 60 zu 40 von Vorderachse zu Hinterachse. Wir erachten es als wahrscheinlich, dass auf der Vorderachse, wo die höchste Bremsleistung abverlangt wird, auch derartige Scheiben zum Einsatz kommen werden. Anders sieht es auf der Hinterachse aus. Schon jetzt sieht man bei E-Fahrzeugen vermehrt wieder Trommelbremsen auf der Hinterachse, das ist ein Trend, der sich wegen den Vorzügen des gekapselten Systems auch wieder vermehrt durchsetzen könnte.

Obwohl viele Trommelbremsen, gerade im Kleinwagenbereich, in der Vergangenheit wohl eher aus optischen oder Verkaufsgründen durch Scheibenbremsen ersetzt wurden...

Di Caro: Exakt. Von der Performance ist eine gut ausgelegte Trommelbremse kein Problem, es soll sogar Testfahrzeuge von großen OEMs geben, die Trommelbremsen an beiden Achsen hatten – ich glaube aber nicht, dass so etwas  in absehbarer Zeit in Serie geht. Zudem gibt es noch eine Alternative: Oberflächengehärtete Graugussbremsscheiben (FNC) gepaart mit einer dafür angepassten Belagmischung könnten eine weitere Türe öffnen. Also die klassische Graugussbremsscheibe, wie die Werkstatt sie kennt, mit dem einzigen Unterschied, dass eine zusätzliche Wärmebehandlung die Scheibe ebenfalls an der Oberfläche härter macht und den Abrieb reduziert. Man kommt damit nicht an die Werte einer Hartstoffbeschichtung heran, aber dafür ist das Verfahren deutlich günstiger. Gerade für Hinterachsen und Fahrzeuge (Kleinwagen) mit hohem Kostendruck könnte dies eine vielversprechende Lösung werden. Die Masse der Bremssysteme wird daher auch in Zukunft auf Graugussscheiben gehen – egal ob beschichtet oder gehärtet.

Vincenzo Di Caro ist Senior Manager Vehicle Programme - Independent Aftermarket bei TMD Friction
Vincenzo Di Caro ist Senior Manager Vehicle Programme - Independent Aftermarket bei TMD Friction

Egal welches System nun in Serie verbaut wird – welche Folgen ergeben sich daraus für den Reparaturmarkt?

Di Caro: Auch der ist von dem Wandel betroffen. Implementierungsdatum, Homologationsablauf und Übergangsfristen sind für den Ersatzteilmarkt noch nicht festgeschrieben, aber man arbeitet daran und es wird kommen, wenn auch zeitlich verzögert. Daher arbeiten weiterhin mit Nachdruck an einer Euro-7-Lösung. Übergangsfristen werden dem Ersatzteilmarkt voraussichtlich Zeit verschaffen, sich mit den unterschiedlichen Lösungen der Fahrzeughersteller vertraut zu machen und entsprechende Produkte auch für den Reparaturmarkt zu entwickeln und diese zu homologieren. In der Regel vergehen ohnehin mindestens ein bis zwei Jahre, bis neue Fahrzeuge in den freien Werkstätten ankommen bzw. Beläge oder Scheiben getauscht werden müssen. Sollte ein früherer Austausch beispielsweise bei Vielfahrern vor Ablauf der Übergangsfrist notwendig sein, stehen alternativ die Originalteile zur Verfügung, um den die Bremse Euro-7-konform wiederherzustellen.

Wenn die Scheiben gehärtet sind und der Trend sich immer mehr in Richtung Hybrid- und E-Fahrzeuge fortsetzt, wird dies ja auch mit Sicherheit den Markt für Bremsteile verändern, oder?

Di Caro: Absolut! Grundsätzlich wird das reduzierte Verschleißverhalten dazu führen, dass die Wechselintervalle nicht mehr wie bisher durch das Erreichen der Abnutzungsgrenze, sondern durch Zeitintervalle vorgegeben werden. Das kann man sich wie ein Haltbarkeitsdatum vorstellen, da die Komponenten durch die Umgebungs- und Betriebsbedingungen bedingt altern und dann dementsprechend auszutauschen sind. Das gilt insbesondere für korrosionsbedingten Alterung.

Neben der technischen Herausforderung spielen auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle. Der Aufwand, entsprechende Lösungen für die Euro 7 im Reparaturmarkt zu bieten, ist immens: Die Investition für einen Prüfstand beläuft sich auf ca. 1,5 Millionen Euro. Die Gesamtlaufzeit für ein Material beträgt etwa 27 Stunden und umfasst 6 Zyklen, in denen jeweils 303 Bremsvorgänge auf einer Fahrtstrecke von 192 km simuliert werden. Das macht deutlich, dass es für günstige Standardmischungen im Zuge der steigenden Anforderungen schwer wird, im europäischen Markt zu bestehen. Die freie Werkstatt, die sich das wichtige Bremsengeschäft sichern will, braucht nicht nur einen Bremsbelag, der bremsen kann, sondern auch einen, der hinsichtlich Geräuschen, Komfort und Emissionen überzeugen kann. Wenn der Bremsbelag die Ansprüche moderner emissionsarmer Mobilität erfüllen soll, führt an Entwicklungs- und Materialkompetenz gepaart mit Erstausrüstungskompetenz kein Weg mehr vorbei.

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