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Klimaservice 10. März 2023

R744 – neues Kältemittel stellt Aftermarket vor Herausforderungen

Kohlendioxid soll die umweltfreundliche Alternative zu R134a und R1234yf sein – in der Praxis stellt das neue Kältemittel Industrie und Werkstätten jedoch noch vor große Herausforderungen.

R744 Klimaanlagen sind besonders empfindlich für Leckagen – die Suche stellt Werkstätten und Händler vor neue Herausforderungen.
R744 Klimaanlagen sind besonders empfindlich für Leckagen – die Suche stellt Werkstätten und Händler vor neue Herausforderungen.

Die Grundidee, CO2 als Kältemittel einzusetzen, ist nicht ganz neu. Bei stationären Klimaanlagen kommt es schon länger zum Einsatz, doch im Auto ist der Einsatz aufgrund starker Vibrationen und hohen Drücken wesentlich schwieriger. Herrschen bei einer R1234yf-Anlage rund 10 bis 20 bar auf der Hochdruckseite, so können die Drücke bei CO2 (R744) im Hochsommer bis auf über 100 bar ansteigen. Zudem besteht das CO2-Molekül aus lediglich drei Atomen und besitzt dadurch eine 16-fach geringere Gasdichte als das Kältemittel R1234yf. Das bedeutet, dass R744-Anlagen nicht nur druckstabil sein müssen, sondern auch gasdicht. Der Klimaanlagen- und Thermospezialist Andreas Lamm berichtet von Dichtheitsproblemen, die zunehmend bei der noch jungen CO2-Flotte auftreten. Gerade bei den R744-Klimaanlagen von Mercedes soll es verstärkt Kältemittelverluste geben, die in einzelnen Fällen dazu führen, dass sich die Klimaanlagen bereits nach zwei bis drei Monaten soweit entleert haben und die Kühlleistung empfindlich nachlässt. Für Fahrer von E- und S-Klasse der Baujahre 2016 und 2017, die vorübergehend mit einer CO2-Klimaanlage geliefert wurden, droht zudem Ungemach: Denn Mercedes hat die Verrechnung von Arbeiten an den R744-Anlagen künftig von der AW-basierten Abrechnung auf den normalen Stundensatz umgestellt, da sich die Arbeiten als umfangreicher erweisen, als gedacht. Für Kunden könnte es in Zukunft teurer werden.

Schwierig abzudichten

Vor allem in Sachen Diagnose erweisen sich die neuen Anlagen als Divas: Durch die extrem hohen Drücke und die besonders kleinen Moleküle kommt die Abdichtungstechnik an ihre Grenzen. Das musste man vor allem bei Mercedes erkennen, die R744 in Verbindung mit einem riemengetriebenen Kompressor einsetzten – über die Antriebswelle der Riemenscheibe kam es zu stetigen Verlusten, weil auch angepasste Dichtungen den Drücken und den auftretenden Vibrationen im Fahrbetrieb nicht gewachsen waren. Mittlerweile ist die Verwendung von R744-Anlagen bei Mercedes in Serienfahrzeugen eingestellt beziehungsweise ausgesetzt.

Volkswagen erging es in dieser Hinsicht etwas besser als Mercedes: Bei der Entwicklung des Wärmepumpenkonzeptes setzte man direkt auf einen elektrischen Verdichter, der hermetisch abschlossen ist. So gibt es keine zusätzlichen Leckagestellen durch den Kompressor – aber auch im Rest der Anlage finden sich davon genug. Nach Aussagen des Klimaanlagen- und Thermospezialisten Andreas Lamm erfordert die neue Wärmepumpenkonstruktion eine Vielzahl von zusätzlichen Elektroventilen und Sensoren. „Man muss sich im Klaren sein: Jede zusätzliche Verbindung ist ein möglicher Leckageverlustpunkt“.

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Aufwendige Diagnose

„Die Werkstätten tun sich aktuell noch sehr schwer mit den Anlagen.“ so Lamm, „Der freie Markt ist noch überhaupt nicht auf die kommende Generation an Klimaanlagen vorbereitet.“ Insbesondere die Diagnose stellt die Werkstätten und Fahrzeughändler derzeit vor große Herausforderungen. „UV-Mittel zur Leckageortung sind bei R744-Anlagen nicht zulässig. Aber die Ortung von den oftmals sehr geringen Leckagen mittels CO2-Gas-Schnüffler ist schwierig und zeitaufwendig.“ Noch befinden sich die meisten Fahrzeuge auf Basis des MEB-Baukastens (unter anderem: Skoda Enyaq, Audi Q4 etron, Seat Cupra, ID.3, ID.4) in der Gewährleistungsfrist der Hersteller, sodass die aufwendigen Ortungen (noch) nicht zum Kundenproblem werden. „In der Praxis werden teilweise auf Verdacht so lange Teile getauscht, bis die Anlage dicht wird. Mit einer professionellen und bezahlbaren Reparatur hat das natürlich nichts zu tun.“

Abhilfe für den Aftermarket macht neues Klimaservicegerät überflüssig.

„Für die Werkstätten bedeutet R744 vor allem die nächste Investition in ein teures Klimaservicegerät und kostet um die 7.000 Euro, obwohl bereits zwei Geräte (Anm.d.Red.: Eines für R134a, eines für R1234yf) vorhanden sind. Das ist für viele Betriebe schlichtweg nicht zu stemmen, zumal nicht alle neuen Fahrzeuge mit der Wärmepumpenfunktion und damit der R744-Anlage ausgestattet sind.“ Die Lösung hat der Klimaprofi aus Celle selbst entwickelt: Statt eines zusätzlichen Klimaservicegerätes setzt der Profi auf eine modifizierte R744-Klimadiagnosearmatur und auf vorbefüllte Kartuschen.

Mittels der Armatur ist ein einfaches und sicheres Ablassen des Kältemittels in die Umwelt möglich, wobei das Kompressoröl in einem separaten Ölauffangbehälter gesammelt wird und später leicht entsorgt werden kann. Die Vakuumphase wird mit der Armatur und dem bereits vorhandenen R134a-Klimaservicegerät durchgeführt. Die eigentliche Befüllung der Anlage erfolgt aus einer vorbefüllten Gaskartusche, die bereits mit der korrekten Füllmenge ausgeliefert wird. Es gibt unterschiedliche CO2-Gaszylinder für Mercedes und Volkswagen, aufgrund der unterschiedlichen Füllmengen. Vor allem für Gelegenheitsnutzer, die nur selten eine R744-Anlage zu sehen bekommen, ist das Set laut Lamm ideal geeignet. Die Füllung kostet 39,85 Euro (netto), neben der Kaufoption kann das Set auch gemietet werden. Auch für die R744-Lecksuche hat der Klimaprofi Lamm eigene Werkzeuge entwickelt.

Hoher Schulungsbedarf für die kommenden Jahre

Da sich die Wärmepumpenkonzepte vom bisherigen Aufbau einer Klimaanlage deutlich unterscheiden, weist der Experte auf den Schulungsbedarf in den nächsten Jahren hin. „Für die meisten freien Werkstätten ist R744 aktuell noch kein Thema, weil die Fahrzeuge noch sehr jung und damit im Werksservice sind. Gerade Betriebe, die viel Unfallinstandsetzung machen, wird das Thema bald erreichen. Daher ist es sinnvoll, sich rechtzeitig um die Weiterbildung im eigenen Betrieb zu kümmern, um den Anschluss nicht zu verlieren.“

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