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Elektromobilität 12. September 2023

Nfz mit Hochvolt-Technik in der Werkstatt: Die Spannung steigt

Der Wechsel hin zur Elektro-Mobilität stellt nicht nur Nutzfahrzeughersteller vor Herausforderungen, sondern bringt auch für Werkstattfachleute neue Aufgaben mit sich. Bei Service- und Reparaturarbeiten an elektrischen Nutzfahrzeugen gelten verschiedene neue Regeln.

Spezielle Tools, beispielsweise ein HV-Adapter, erleichtert Messungen an schwer zugänglichen Stellen.
Spezielle Tools, beispielsweise ein HV-Adapter, erleichtert Messungen an schwer zugänglichen Stellen.

Seit mehr als zehn Jahren sind alternative Antriebskonzepte fest in den Produktpaletten der Nutzfahrzeughersteller verankert. Der Startschuss für die Serienproduktion elektrischer Nutzfahrzeuge fiel schließlich zur IAA Nutzfahrzeuge 2018 in Hannover. Seither wächst die „Population“ der mit Strom angetriebenen Transporter, Lkw, Busse und Sonderfahrzeuge praktisch täglich. Das bedeutet, dass zwangsläufig immer mehr Fahrzeuge mit Hochvoltsystem (HV-System) für Service- und Reparaturarbeiten in Nutzfahrzeugwerkstätten aller Couleur auftauchen. Dadurch erweitert sich nicht nur in markengebundenen Servicebetrieben das Aufgabenspektrum, sondern auch in vielen freien sowie speditionseigenen Werkstätten.

Sicher ist besser

Nutzfahrzeuge mit E-Antrieb benötigen einen anderen Werkstattservice als die Verbrenner-Fraktion. Damit tauchen bei Werkstattbetreibern zwangsläufig Fragen wie „Worauf müssen sich die unterschiedlichen Werkstatt-Typen einstellen?“, „Wer darf was an E-Nutzfahrzeugen erledigen?“, „Was ist dabei zu beachten?“, „Welche Schutzausrüstung ist notwendig?“ oder „Welche Werkstattausstattung braucht man?“ auf. Während man davon ausgehen kann, dass die Hersteller ihr Werkstattpersonal schon lange im Vorfeld mit eigenen Ausbildungskonzepten auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet haben, ist es für die Marktteilnehmer des freien Reparaturmarktes ungleich schwieriger und aufwendiger, sich entsprechend auf die speziellen Anforderungen der E-Mobilität vorzubereiten.

Dabei geht es allerdings primär nicht darum, lediglich gesetzliche Vorgaben zu erfüllen, sondern vielmehr, sicher und ohne Gefahr für Leib und Leben an elektrischen Nutzfahrzeugen und deren HV-Systemen arbeiten zu können. Denn prinzipiell gilt: Beim Kontakt mit spannungsführenden HV-Komponenten kann es zur Körperdurchströmung mit gesundheits- oder lebensgefährdenden Folgen bis hin zum Tod kommen. Bereits bei Körperströmen im Milliampere-Bereich ist je nach Einwirkdauer mit schweren körperlichen Schäden zu rechnen. Außerdem kann es bei einem Kurzschluss an den beiden Polen des HV-Systems zu einem Störlichtbogen kommen, der schwere äußere Verbrennungen und Augenverletzungen verursacht.

Mit einem zweipoligen Spannungsprüfer (Duspol) lässt sich kontrollieren, ob das HV-System spannungslos ist. Eventuell noch vorhandene Restspannung lässt sich bei manchen Geräten durch Auslösen des FI-Schalters restlos abbauen. 
Mit einem zweipoligen Spannungsprüfer (Duspol) lässt sich kontrollieren, ob das HV-System spannungslos ist. Eventuell noch vorhandene Restspannung lässt sich bei manchen Geräten durch Auslösen des FI-Schalters restlos abbauen. 
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Spezielle Qualifikationen notwendig

Deshalb sollten alle Werkstattmitarbeiter, welche in irgendeiner Weise mit einem HV-System in Berührung kommen könnten, zumindest ein Basistraining der Stufe S zur „Sensibilisierten Person“ absolviert haben. Doch nicht nur für Arbeiten am HV-System an sich braucht der Nutzfahrzeugprofi spezielle Qualifikationen und Kenntnisse: selbst für bislang traditionelle Wartungs- und Reparaturaufgaben ist bei E-Fahrzeugen eine entsprechende (Zusatz-)Ausbildung notwendig. Details zum Schulungsbedarf und den verschiedenen Qualifizierungsstufen gibt es in der DGUV-Information 209-03.

Für klassische Service- und Instandsetzungsarbeiten abseits des HV-Systems, etwa der Bremsenwartung, dem Kupplungstausch oder der Reparatur eines Aufbausystems (Hubkran, Müllsammelvorrichtung, etc.), ist bereits eine HV-Ausbildung der Stufe 1S zur „Fachkundig unterwiesenen Person“, kurz „FuP“, notwendig. Um direkt an HV-Antrieben arbeiten zu dürfen, bedarf es mindestens der Qualifizierungsstufe 2S zur „Fachkundige Person für Arbeiten an HV-Systemen im spannungsfreien Zustand“, kurz „FHV“.

„Echte“ Arbeiten an unter Spannung stehenden HV-Systemen, etwa um Störungen zu lokalisieren und zu beseitigen oder eine Instandsetzung der HV-Batterie vorzunehmen oder Reparaturen an einem als „HV nicht eigensicher“ eingestuften Nfz, sind Werkstattprofis vorbehalten, welche eine Ausbildung der Qualifikationsstufe S3 abgeschlossen haben. Ihre Bezeichnung lautet dann „Fachkundige Person für Arbeiten an unter Spannung stehenden HV-Komponenten“.

Ist das HV-System heruntergefahren, sichert man den „Service-Disconnect“-Stecker mit einem Schloss, um ein versehentliches Wiedereinschalten zu verhindern. Ein Hinweisaufkleber informiert, wer das System wieder scharfstellen darf.
Ist das HV-System heruntergefahren, sichert man den „Service-Disconnect“-Stecker mit einem Schloss, um ein versehentliches Wiedereinschalten zu verhindern. Ein Hinweisaufkleber informiert, wer das System wieder scharfstellen darf.

Arbeiten an „nicht eigensicheren“ Fahrzeugen und HV-Systemen

Während Mechatroniker in Pkw-Werkstätten nahezu ausschließlich an „HV eigensicheren Fahrzeug“ arbeiten, bekommen es Nutzfahrzeugfachleute auch mit „HV nicht eigensicheren“ Gefährten zu tun. Zu dieser Kategorie zählen beispielsweise Kleinserienfahrzeuge, Busse, Sonderfahrzeuge, Bau- und Landmaschinen sowie zum Teil auch Lkw und Zugmaschinen.

„HV eigensicher“ bedeutet, dass durch technische Maßnahmen am Fahrzeug ein vollständiger Berührungs- und Lichtbogenschutz gegenüber dem HV-System gewährleistet ist. Dies lässt sich unter anderem erreichen durch:

  • ein technisch sicheres Abschalten des HV-Systems und eine automatische Entladung möglicher Energiespeicher vor dem Erreichen unter Spannung stehender Teile,
  • Kabelverbindungen mit lichtbogensicheren Steckern anstelle von offenen Schraubverbindungen,
  • sicheres Abschalten des Systems, bevor man Abdeckungen von Komponenten des HV-Systems entfernt.

Bei „HV-nicht eigensicheren Fahrzeugen“ ist dies nicht der Fall.

HV-taugliches Equipment

Für Wartungs- und Servicearbeiten an HV-Fahrzeugen ist nicht nur die geforderte Qualifikation notwendig, sondern auch spezielles, HV-geeignetes Werkzeug und ebensolche Messgeräte, um sicher und gefahrlos an den bis zu 1.000 Volt führenden Systemen arbeiten zu können. Zudem ist für manche Aktivitäten, etwa der Austausch einzelner defekter Module bei geöffneter HV-Batterie, eine geeignete „Persönliche Schutzausrüstung“ (PSA) notwendig.

Zur Basisausstattung eines HV-Arbeitsplatzes sollte unter anderem ein Digital-Multimeter (zur Diodenprüfung und für Spannungs-, Widerstands-, Strom- und Temperatur- sowie Kapazitäts- und Frequenzmessungen), einen Duspol (= zweistufiger Spannungsprüfer), um die Spannungsfreiheit festzustellen, sowie ein spezielles HV-Multimeter gehören. Letzteres ist für die Isolationsprüfung und Potenzialausgleichsmessungen notwendig. Weitere wichtige Tools sind HV-taugliche Schraubendreher und -schlüssel, Zangen, Drehmomentschlüssel, Ratschen und Stecknüsse sowie Spezialwerkzeuge zum Quetschen von Kabelschuhen und Aderendhülsen, falls HV-Leitungen auszutauschen, zu verlegen oder neu anzufertigen sind.

Ist das HV-System „freigeschaltet“, kann der Nutzfahrzeug-Profi Komponenten gefahrlos austauschen – vorausgesetzt, er verfügt über eine entsprechende Qualifikation.
Ist das HV-System „freigeschaltet“, kann der Nutzfahrzeug-Profi Komponenten gefahrlos austauschen – vorausgesetzt, er verfügt über eine entsprechende Qualifikation.

Speziell gekennzeichneter HV-Arbeitsplatz

Wartungs- und Reparaturarbeiten an Hybrid- und vollelektrischen Nutzfahrzeugen sind mit einem gewissen Risiko behaftet, da die hohen elektrischen Ströme des HV-Systems gefährlich werden können – nicht nur für den direkt daran Arbeitenden, sondern auch für seine in der Nähe befindlichen Kollegen. Um ein sicheres Arbeiten zu gewährleisten, ist nach dem Abstellen des Fahrzeugs in der Werkstatt das Areal entsprechend als HV-Arbeitsplatz zu kennzeichnen und deutlich sichtbar abzutrennen, beispielsweise durch gelb-schwarze oder rot-weiße Ketten oder Warntapes.

Anschließend ist ein Hinweisschild mit dem aktuellen HV-Zustand am Fahrzeug – beispielsweise an der Frontscheibe oder der Fahrertür – anzubringen, wobei es drei Risikostufen gibt: Gelb für „Achtung! HV-System aktiv“ (Kontakte abgedeckt), grün für „Achtung! HV-System inaktiv“ und rot für „Achtung! Hochvolt-System aktiv“ (Kontakte freiliegend!). Die Warnschilder sollten zusätzlich den Hinweis enthalten, welcher Mitarbeiter (ggf. mit Telefonnummer) das Schild entfernen oder das Fahrzeug bewegen darf.

Das E-Nfz in der Werkstatt

Abhängig davon, welche Reparaturen an einem E-Nfz vorzunehmen sind, muss zunächst eine „Fachkundigen Person für Arbeiten an HV-Systemen im spannungsfreien Zustand“ (FHV) das HV-System zunächst entsprechend den in der DGUV-Information 209-03 beschriebenen „Fünf Sicherheitsregeln“ (und unter Beachtung der Herstellerangaben) fachgerecht deaktivieren, also in den spannungsfreien Zustand versetzen. Anschließend dürfen Werkstattmitarbeiter der Qualifizierungsstufen 1S oder 2S Hand ans Fahrzeug legen. Die Sicherheitsregeln sind laut DGUV-Empfehlung in der folgenden Reihenfolge einzuhalten:

  1. Freischalten (= HV-System deaktivieren),
  2. Gegen Wiedereinschalten sichern,
  3. Spannungsfreiheit mit dem Duspol feststellen (ggf. Restspannung abbauen),
  4. Erden und kurzschließen,
  5. benachbarte, unter Spannung stehende Teile abdecken und abschranken.
Um ein sicheres Arbeiten zu gewährleisten, ist das Areal entsprechend als HV-Arbeitsplatz zu kennzeichnen und deutlich sichtbar abzutrennen.
Um ein sicheres Arbeiten zu gewährleisten, ist das Areal entsprechend als HV-Arbeitsplatz zu kennzeichnen und deutlich sichtbar abzutrennen.

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