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Rückrufmanagement via Funk: Autobauer nehmen Verbesserungen zunehmend über eine aktualisierte Software vor. Prüfgesellschaften, Behörden und auch (Vertrags-)Werkstätten warnen vor einer Verschleierungstaktik.
Foto: Renault
Rückrufmanagement via Funk: Autobauer nehmen Verbesserungen zunehmend über eine aktualisierte Software vor. Prüfgesellschaften, Verbraucherschützer und auch (Vertrags-)Werkstätten warnen vor einer Verschleierungstaktik.

amz-Serie: Over-the-Air-Updates, Teil 5

Rückrufe aus der Ferne fixen?

OTA-Updates bleiben ein Politikum: Zum einen ist das direkte Aftersalesgeschäft der Autobauer umstritten. Auch das Aufspielen von Software im Fehlerfall sieht mancher kritisch und warnt vor Rückrufen unter dem Radar.

Im Februar 2022 musste Tesla bei neueren Modellreihen nachbessern. Der Grund für den Rückruf laut US-Sicherheitsbehörde NHTSA, dem Pendant zum Kraftfahrtbundesamt (KBA): Bei über 800.000 Fahrzeugen blieb der akustische Warnhinweis bei nicht angelegtem Sicherheitsgurt aus. Über den Begriff „Rückruf“ („Recall“ im Englischen) ärgerten sich daraufhin viele Tesla-Piloten in den sozialen Medien. Da der kalifornische Hersteller „Over-the-Air“ nachjustierte, die Software der Fahrzeuge also aus der Ferne und über die standardmäßig verbaute Mobilfunk-Schnittstelle überarbeitete, war kein Werkstattbesuch nötig. Es handele es sich folglich um keinen klassischen Rückruf, so die Meinung der Tesla-Fahrer. Was für die Einen ein sicherheitsrelevanter und zu überwachender Rückruf ist, stellt für andere also eine modern-elegante Nachjustierung 2.0 und somit einen Wettbewerbsvorteils dar.

Der Streitfall zeigt, wohin sich die Mobilitätsbranche entwickelt. Auch andere Autohersteller bearbeiten Rückrufe soweit möglich per Fernprogrammierung. Nicht wenige Defekte lassen sich tatsächlich durch das Aufspielen neuer Software beheben. Laut ADAC-Angaben war im Jahr 2018 bei 16 Prozent der Rückrufe eine fehlerhafte Software ursächlich. Der Zulieferer Actia beschreibt den Komfort dieser Praxis auf auf dem unternehmenseigenen Blog „Let’s Talk Techno“ so: OEM können Softwareaktualisierungen zur Mangelbehebung bequem bei geparkten Fahrzeugen vornehmen lassen. Fahrzeughalter müssten sich um nichts kümmern und ihr Auto nicht extra in die Werkstatt fahren. Ein Sicherheitsgewinn aus Sicht von Actia, denn nicht jeder Halter leistet einem Rückruf Folge. Der VDA zählt ebenfalls zu den Befürwortern eines digitalen Rückrufmanagements. Im Positionspapier aus dem Jahr 2020 ist zu lesen: OTA-Updates kommen einer „schnellen, kundenfreundlichen und effizienten“ Korrekturmaßnahme gleich.

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Fehlermeldungen aus Fahrzeugen sollen laut Volker Noeske, Bereichsleiter Fahrzeugprüfwesen bei der Dekra, nicht nur dem OEM vorbehalten sein. Der freie Datenzugriff  soll vermeiden, dass Mängel unbemerkt korrigiert werden.
Foto: Dekra
Fehlermeldungen aus Fahrzeugen sollen laut Volker Noeske, Bereichsleiter Fahrzeugprüfwesen bei der Dekra, nicht nur dem OEM vorbehalten sein. Der freie Datenzugriff verhindert, dass sich Mängel unbemerkt korrigieren lassen.

Meldepflichtig oder nicht?

Es gibt jedoch auch mahnende Stimmen: Die ADAC-Technik-Experten Arnulf Thiemel und Manuel Griesmann befürchteten im Juli 2021, dass Rückrufe durch die Möglichkeit von Fernzugriffen seitens der OEM umgangen werden können. Hersteller könnten versucht sein, sich einem offiziellen Rückruf zu entziehen und sicherheitsrelevante Probleme mittels Update zu beheben, ohne die Maßnahme an das Kraftfahrtbundesamt zu melden. Die Streitfrage ist aktuell ungeklärt. Eine konkrete Anfrage unserer Redaktion an das Kraftfahrtbundesamt wurde nur in Teilen beantwortet. Die Behörde verwies neben dem zitierten Positionspapier lediglich auf allgemeine Informationen auf der eigenen Webseite. Dort ist zwar zu lesen, dass die UN-Regelungen 155 (Cyber-Security) und 156 (Software-Update) durchaus neue Anforderungen an Hersteller und Technische Dienste stellen. Auch verfüge das KBA beim Software-Update Managementsystem (SUMS) über eine gewisse Handhabe und ist befugt, das in den UN-Regelungen geforderte Zertifikat zum SUMS sowie zum Cyber-Security Managementsystem (CSMS) auszusetzen oder zu entziehen. Außerdem müssen Hersteller „dem KBA unverzüglich bekannt gewordene Schwachstellen oder Angriffe“ mitteilen – all das scheint sich allerdings auf den Bereich Cyber-Security zu beziehen. Beim Rückrufmanagement gilt bisher: Wenn die Optimierungsmaßnahme sicherheitsrelevant ist, müssen OEM europäische und nationale Sicherheitsbehörden informieren – in Deutschland überwacht das KBA dann die von Autobauern gern „Serviceaktion“ genannte Maßnahme. Das KBA ist häufig bei der Haltersuche und der Kommunikation behilflich – im Falle einer OTA-Maßnahme stehen die Autobauer aber im direkten Kontakt und benötigen keine Unterstützung.

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Zulassungsrechtliche Grundlage

Als Technischer Dienst ist auch die Dekra mit Prüfungen des Managementsystems (CSMS/SUMS) betraut. Der Prüforganisation zufolge ist beim Thema Rückrufe zu berücksichtigen, dass „Over-the-Air“-Updates, die typgenehmigte Eigenschaften betreffen beziehungsweise verändern, grundsätzlich genehmigungspflichtig sind. „Damit im Feld auftretende Fehler nicht unbemerkt korrigiert werden und daraus gegebenenfalls entstehende Gefahren von den Behörden erkannt werden können, plädieren wir dafür, dass Fehlermeldungen aus den Fahrzeugen nicht nur auf den Servern der OEMs auflaufen, sondern zusätzlich auch in einem neutralen Trust Center“, führte Volker Noeske, Bereichsleiter Fahrzeugprüfwesen, den Standpunkt der Dekra Automobil GmbH im Frühjahr gegenüber unserer Redaktion aus. Dann könne gegebenenfalls ein Werkstattbesuch oder eine anlassbezogene Überprüfung als Bestandteil der hoheitlichen Fahrzeugüberwachung ausgelöst werden.

Auch der Herstellerverband VDA ist sich bewusst, dass die hohen Sicherheits- und Qualitätsansprüche an Fahrzeuge nicht durch ein nachträgliches Update verletzt werden dürfen. Zur Frage, ob Vertragswerkstätten ebenfalls in Kenntnis gesetzt werden müssen, findet sich in dem Positionspapier von Juli 2020 folgende interessante Formulierung: „Auch bei einem OTA-Update müssen den Werkstätten wie bisher Updates mit gleichem Inhalt zeitgleich zur Verfügung gestellt werden. Dies ist erforderlich, um Fahrzeuge, die nicht OTA-fähig sind, deren updateberechtige Fahrzeugbesitzer statt eines OTA-Updates einen Werkstattbesuch bevorzugen oder bei denen das OTA-Update nicht erfolgreich durchgeführt werden konnte, mit dem Update versorgen zu können.“ Auch der Gesamtverband Autoteile-Handel (GVA) plädiert dafür, die Kfz-Betriebe zu beteiligen – selbst wenn möglicherweise ein „klassischer Werkstattaufenthalt“ mit mechanischer Reparatur zunehmend weniger erforderlich sei: „Bei konkreten Fehlermeldungen sollte trotz des OTA-Eingriffs die physische Kontrolle in der Werkstatt erfolgen“, heißt es aus Ratingen. Nicht alle Systeme seien via OTA zu kontrollieren und zu regeln. „Auswirkungen der elektronischen Fehlfunktionen auf mechanische Komponenten müssen in der Werkstatt überprüft werden.“

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Der Upgrade von Fahrzeugfunktionen basiert in der Regel auf Freischaltung bereits verbauter und typgenehmigter Hardware im Fahrzeug. Für nicht vorab inspizierte Veränderungen ist eine nachträglich Begutachtung unerlässlich.
Foto: Volkswagen AG
Der Upgrade von Fahrzeugfunktionen basiert in der Regel auf Freischaltung bereits verbauter und typgenehmigter Hardware im Fahrzeug. Für nicht vorab inspizierte Veränderungen ist eine nachträglich Begutachtung unerlässlich.

Update vs. Upgrade

Auch bei OTA-Upgrades ist einiges in Betracht zu ziehen. Die optionalen, häufig kostenpflichtigen „Funktionen auf Bedarf“ („Functions-on-demand“) unterscheiden sich naheliegenderweise von der Fehlerbehebung aus der Ferne. Mit den Upgrades (Englisch für Aufrüstung, Erweiterung) sind schließlich keine Nachteile verbunden, sondern in diesem Bereich schielen Audi, BMW, Stellantis oder Daimler auf künftige, zusätzliche Digitalerlöse (wir berichteten). Pate standen hier Apple (App-Geschäft im Smartphone-Bereich) und die nach dem Autokauf buchbaren Services von Tesla, beispielsweise eine höhere Reichweite durch eine nachträgliche Freischaltung zusätzlicher Akkukapazitäten. Einer Studie der Marktforscher von Bearing Point zufolge fällt das Angebot auf fruchtbaren Boden: In der im Juni 2022 veröffentlichten Untersuchung ist zu lesen, dass sich 87 Prozent der Autobesitzer in Deutschland für die Nutzung und den Erwerb digitaler Funktionen durch neue Software-Updates für ihr Auto interessieren. Die Befragten seien bereit, jährlich 214 Euro für diese Dienste auszugeben.

Eine wichtige Bedingung: Upgrades müssen rechtssicher sein. Die wenigsten Autohalter sind bereit, die Zusatzfeatures vor Inbetriebnahme beim Prüfdienstleister abnehmen zu lassen. Auch hier müssen Autobauer in Vorleistung gehen: Ist die technische Grundlage nämlich zum Zeitpunkt der Typgenehmigung bereits im Fahrzeug verbaut, gestaltet sich die direkte und digitale Aftersales-Geschäftsbeziehung zwischen OEM und Autohalter unproblematisch, wie Volker Noeske bestätigt. Denn „On-Demand“-Funktionen in Fahrzeugen bedürfen einer vorherigen Abnahme durch die technischen Dienste: „Auch Funktionen, die erst später freigeschaltet werden, sind damit in der Regel durch die Typgenehmigung abgedeckt – im Prinzip vergleichbar mit zugelassenen Rad-Reifen-Kombinationen. Das bedeutet, dass alle verbauten Hardware-Elemente – unabhängig davon, ob sie genutzt werden oder nicht – im Rahmen der Typgenehmigung überprüft werden müssen.“ Lediglich Veränderungen, die nicht in der Typgenehmigung enthalten seien, müssten nachträglich begutachtet werden. „Unter anderem zur rechtssicheren Dokumentation des Status der Genehmigung wird zurzeit intensiv an der Einführung einer digitalen Fahrzeugakte gearbeitet. Sie wäre auch eine wichtige Voraussetzung für die periodische Überprüfung von Softwarestand und Upgrade-Status sowie der korrekten Ausführung der Updates, die aus unserer Sicht in Zukunft als Bestandteil der Hauptuntersuchung erforderlich sein wird“, stellt der Manager klar.

In Hinblick auf das Rückruf-Thema ergänzt TÜV Süd auf Nachfrage übrigens: Bislang sei es nur möglich, Updates im Rahmen der Hauptuntersuchung zu überprüfen, wenn der Hersteller dies bei Rückrufen über das KBA zur Verfügung stellt. „Eine andere gesetzliche Grundlage gibt es noch nicht. Wir fordern aber, dass die Software-Version zukünftig in die Prüfumfänge der HU aufgenommen wird. Das wäre ein Punkt, der in der kommenden EU-PTI-Richtlinie und daraus abgeleitet in der StVZO verankert werden müsste.“

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