Auch wenn Nutzfahrzeuge bald autonom unterwegs sein werden: Beim Chassis findet man immer noch den traditionellen ‚Leiterrahmen‘, wie ihn schon 1896 der erste Motor-Lastwagen der DMG (Daimler Motoren Gesellschaft), quasi der Vorläufer von Daimler Trucks, besaß. Mittlerweile findet man bei modernen Nutzfahrzeugen jedoch Rahmen in Leichtbauweise und aus speziellen Sonderstählen, um die Nutzlast zu optimieren und den Treibstoffverbrauch gering zu halten. Nicht zuletzt aufgrund dieses Technologiefortschritts ist die fachgerechte Rückverformung – also das Rahmenrichten mit Kalt- und/oder Warmrichtverfahren und hydraulischem Gerät – einer ganz besonderen Spezies von Nutzfahrzeugfachleuten vorbehalten: den Rahmenrichtprofis.
Gretchenfrage: Ist der Rahmen tatsächlich krumm?
Bevor sich ein solcher ‚Rahmenflüsterer‘ an einem augenscheinlich krummen Fahrgestellrahmen zu schaffen macht, gilt es zuerst die Frage zu beantworten: Liegt überhaupt ein Rahmenschaden vor? Grundsätzlich gilt nämlich für Leiterrahmen, dass sich alle Träger und Bauteile unter entsprechend hoher Belastung mehr oder weniger verformen können. Sofern die aufgebrachte Last nicht zu groß war, gehen die betroffenen Teile nach dem Belastungsende aufgrund ihrer Elastizität wieder weitestgehend in den Ursprungszustand zurück. Gewissheit, ob tatsächlich ein Rahmenschaden vorliegt, bringt deshalb eine eingehende, fachmännische Vermessung – sowohl des Fahrwerks als auch des Rahmens.
Erst vermessen, dann richten
Wie beim Pkw, wo die Vier-Rad-Vermessung üblich ist, wird auch bei Nutzfahrzeugen die Achsgeometrie mit einem Laser- oder Kameramesssystem von der Hinterachse ausgehend gemessen, also auf Basis der Rahmenmittellinie, der sogenannten geometrischen Fahr- oder Schubachse. Neben üblichen Werten wie Spur, Sturz, Nachlauf, Spreizung, Spurdifferenzwinkel und Lenkeinschlag werden dabei auch weitere Parameter, etwa die Rollrichtung der Räder und der Achsenschrägstand, ermittelt.
Für den anschließendem Rahmencheck lassen sich die Laser-Messsysteme mit skalenbestückten Hilfslinealen und kamerabasierten PC-Messsystemen mit reflektierenden Messtafeln (Targets) an den Linealen aufrüsten. Der Messaufbau beider Systeme ist ähnlich: der Vermesser hängt in regelmäßigen Abständen exakt auf die gleiche Länge eingestellte Messlineale entweder an die Rahmenuntergurte oder bringt sie mit Magnetfüßen direkt am Rahmenprofil an. Für eine erste Prognose genügen – abhängig von der Rahmenbauform – üblicherweise drei, für eine exakte Diagnose mindestens fünf Messstellen. Der Soll-Ist-Vergleich anhand der fahrzeugspezifischen Daten des Nutzfahrzeugherstellers oder des Fahrzeugbauers verrät dem Rahmenrichtprofi schließlich den aktuellen Chassis-Zustand.
Als Vermess-Reihenfolge empfehlen Rahmenexperten, zuerst seitliche und senkrechte Verbiegungen zu ermitteln und dann die Verdrehung zu prüfen. Danach checkt man die Diagonalverschiebung mit einem 90-Grad-Stahlwinkel und einem Messschieber. Mit dem sogenannten Richtscheit oder einem Stahllineal lassen sich schließlich noch Knicke, Ausbeulungen, Eindellungen und Aufschübe aufspüren. Die Schadstellen markieren Richtprofis mit Fettkreide, um sicher zu gehen, dass die anschließenden Richtarbeiten an den betreffenden Stellen den gewünschten Effekt haben. Zum Richten kann die Messvorrichtung am Rahmen verbleiben, so dass sich der Richterfolg quasi ‚in Echtzeit‘ kontrollieren lässt.
Fünf Grund-Schadensarten
Aufgrund des simplen Leiterrahmenprinzips lassen sich die Schadensformen grob in fünf Grundtypen einteilen, wobei in der Richtpraxis meist Mischformen vorliegen. Häufigste Schadensart ist die seitliche Verbiegung. Sie tritt überwiegend durch seitlich gerichtete oder diagonal einwirkende Kräfte auf, wie sie bei überdeckten Zusammenstößen oder ‚Umfallern‘ entstehen. Aber auch unsachgemäß montierte Kippmulden oder Krane können den Rahmen verbiegen. Bei einer seitlichen Verbiegung verschiebt es die einzelnen Querträger aus ihrer rechtwinkligen Lage. Die Verformung an den Querträgerbefestigungen ähnelt auf den ersten Blick häufig einer Diagonalverschiebung. Seitliche Verbiegungen treten zudem oft zusammen mit senkrechten Verbiegungen auf.
Senkrechte Verbiegungen indes entstehen durch senkrecht einwirkende Kräfte, wie sie beispielsweise bei überladenen Kipperfahrzeugen auftreten, oder wenn der Fahrer versucht, die (noch) verriegelte Kippmulde zu leeren. In solchen Fällen verformen sich die Längsträger meist in nahezu gleichem Maße. Häufig geht senkrechten Verbiegungen eine Verdrehung voraus. Richtexperten beseitigen daher üblicherweise zuerst alle senkrechten Verbiegungen und korrigieren anschließend die Verdrehungen.
Bei einer Verdrehung sind zwar die Querträger gerade, allerdings liegen sie nicht mehr in einer Flucht. Jene Querträger, die sich am weitesten vom Verdrehzentrum entfernt befinden, verformen sich dabei am stärksten. Offene Profile nehmen Drehkräfte besser auf und geben aufgrund ihrer Elastizität nach. Vielfach gehen sie nach der Belastung von selbst wieder weitestgehend in ihren Ursprungszustand zurück – was dem Richtfachmann das Rückverformen erleichtert.
Extrem stark und/oder dauerhaft verformte Traversen müssen jedoch unbedingt erneuert werden. Geschlossene Profile, wie man sie häufig bei Aufbauten findet, dagegen ‚versuchen‘ der Verdrehung zu widerstehen, wobei es zu Rissen kommen kann. Bei einer Diagonalverschiebung zeigen sich üblicherweise alle Querverbindungen aus ihrer rechtwinkligen Lage verschoben und ihre Anbindungen am Rahmenlängsträger deformiert. Dieses Schadensbild sieht man häufig bei Kippern, die beim rückwärtigen Abkippen des Ladegutes umgefallen sind.
Punktuelle Verformungen wie Knicke, Aufwerfungen oder Wellen treten in Rahmenbereichen auf, wo Anbauteile, etwa eine Sattelkupplung, befestigt sind, da diese die Kräfte in die betreffenden Rahmenprofile einleiten. Deshalb muss der Richtprofi die Befestigungen dieser Bauteile separat und gründlich auf Brüche oder Risse inspizieren. Allerdings sollte man beim Richten grundsätzlich nur so viele Aufbauteile wie unbedingt notwendig entfernen, da die Rahmenstabilität auch von den Anbauteilen abhängt.
Bei sehr steifen Befestigungen, beispielsweise eines Drehkranzes oder Hilfsrahmens, richtet man den Hauptrahmen normalerweise inklusive Aufbau. Erst danach werden die Anbauteile gelöst und geprüft – und falls erforderlich, getrennt gerichtet beziehungsweise erneuert. Bei der Wiedermontage auf das Chassis darf es keine Verspannungen geben, da sonst Schwachstellen entstehen können.
Fachgerecht richten
Bei den Richtverfahren unterscheidet man prinzipiell zwischen Kalt- und Warmrichten. Kaltrichten allein kann allerdings dazu führen, dass die eingebrachten Streck- und/oder Stauchspannungen auch nach dem Richten noch im Material vorhanden sind, was die Dauerfestigkeit negativ beeinflussen kann. Um einen gerichteten Rahmen wieder in den ‚Urzustand‘ zurückzuversetzen, werden die in den Reparaturbereichen entstandenen Spannungen durch gezieltes Erwärmen mit der Gasflamme – oder moderner – mit einem Induktionserhitzer gelöst.
Beim Warmrichten dagegen nutzt man den Effekt, dass das erwärmte Material an Festigkeit verliert und sich ausdehnt, während die umgebenden kalten Rahmenpartien der Ausdehnung entgegenwirken. Kühlt das Material ab, wird es quasi wieder zu seiner ursprünglichen Form ‚zurückgestaucht‘, wobei es seine anfängliche Festigkeit wiedererlangt. Die zulässigen Richttemperaturen sind unter anderem abhängig von der Materialgüte des Rahmens. Ist diese nicht bekannt, sollte man nicht über 600°C erwärmen. Sicherer ist daher, sich entsprechende Informationen beim Rahmenhersteller zu besorgen. Mit spezieller ‚Temperaturkreide‘ oder mit dem Infrarot-Thermometer lässt sich die Temperatur punktgenau kontrollieren.
Für die Reihenfolge beim Richten gilt folgende Faustregel: Immer mit der größten Verformung beginnen und Punktverformungen gleichzeitig mit danebenliegenden Schäden beheben. Zudem sollte man stets möglichst spannungsfrei richten und dazu, wo immer notwendig und möglich, Schraubverbindungen an Achsen, Traversen und Aufbauteilen lösen. Da bei modernen Lkw hochfeste Schrauben und Drehwinkelanzug üblich sind, ist deren Wiederverwendbarkeit nach Herstellervorgabe zu prüfen. Verbogene Schrauben sind allerdings grundsätzlich zu erneuern.
Spezielles Richtequipment
Beim Rahmenrichten treten sehr hohe Kräfte auf. Diese beanspruchen nicht nur den Rahmen, sondern auch das zum Richten verwendete Equipment extrem. Auch die zum Verankern des Rahmens in den Werkstattboden eingelassenen Befestigungstöpfe oder Schienen der Richtanlage müssen entsprechend dimensioniert sein. Zudem ist das Know-How des ‚Rahmenflüsterers‘ gefragt. Denn bei unsachgemäßen Verankerungs- und Richtarbeiten besteht nicht nur die Gefahr einer bleibenden Materialverformung, sondern auch Lebensgefahr für den Mechaniker.
Um das Risiko so gering wie möglich zu halten, sind deshalb die Zwischenräume der Gurte beim Richten mit geeigneten Methoden und Richtbrücken zu stützen und zu stabilisieren. Zudem minimiert professionelles Spezialequipment die Zeiten für das Ab- und Anmontieren von Anbauteilen und erlaubt selbst an schwer unzugänglichen Stellen ein effektives Arbeiten.
Obligatorisch: Fahrerassistenzsysteme kalibrieren
Da moderne Lkw mittlerweile über zahlreiche radar- und kamerabasierte Fahrerassistenzsysteme verfügen, müssen diese vor der Auslieferung an den Kunden beziehungsweise vor der obligatorischen ‚Setzfahrt‘ fachgerecht kalibriert und im Bordcomputer programmiert werden. (Klaus Kuss)