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Haftung auf Nässe – auch in der Elektromobilität entscheidendes Qualitätskriterium eines guten Reifens. 
Foto: Nokian
Haftung auf Nässe – auch in der Elektromobilität entscheidendes Qualitätskriterium eines guten Reifens. 

Ganzjahresreifen

EV-Reifen: Schwächepotenzial in Nassdisziplinen

Die Redaktionen von AutoRäderReifen-Gummibereifung und amz befragten Experten der Fahrzeug- und Reifenindustrie zum Zielkonflikt Rollwiderstand-Nasshaftung. Etablierte Reifentester unabhängiger Medien identifizieren ein Schwächepotenzial von EV-Spezifikationen in Nassdisziplinen.

Kay Lehmkuhl / Simon Bäumer

Zielkonflikte austarieren – die Reifenentwicklung ist in unserer Branche eine magische Disziplin und die Grundlage für den Markterfolg einer Marke. Nicht umsonst gibt es eine Vielzahl vom Handel stark beachteter Reifentests unabhängiger Medien und Prüforganisationen. Für die Industrie sind diese ein Gradmesser der eigenen Entwicklungskompetenz. Mit dem Aufkommen spezieller Reifenspezifikationen für Elektrofahrzeuge schärft sich der Blick für den zentralen Zielkonflikt Rollwiderstand-Nasshaftung. Wer diesen nicht optimal ausbalanciert, wird abgestraft. Und bei EV-Reifen deutet sich ein Schwächepotenzial einiger Profile in Nassdisziplinen – und eine Qualitätsdiskrepanz zwischen Produkten für die Erstausrüstung und den Ersatzmarkt – an.

Über seine Erfahrungen mit Erstausrüstungsreifen für elektrisch angetriebene Fahrzeugeinheiten berichtet Reifentester Paul Englert: „Weil Autohersteller vom Reifenlieferanten einen geringen Rollwiderstand verlangen, um noch ein paar Kilometer mehr Reichweite zu erreichen, wird diese Vorgabe umgesetzt – in manchen Fällen auch zu Lasten des Nassgriffs, also der Sicherheit bei Nässe. So können Bremswege länger ausfallen und Ausweichmanöver weniger präzise und stabil umgesetzt werden. Auch die Traktion leidet, was besonders bei E-Autos auffällt, die ein hohes und sofort voll abrufbares Drehmoment besitzen – was Reifen bereits auf trockenem Asphalt vor besondere Herausforderungen stellt. All das habe ich mit den verschiedensten Fahrzeugen im Alltag bereits erlebt.“ Auffällig ist laut Englert, dass der Unterschied zwischen Ersatzmarkt-Reifen und Profilen für die OEMs immer größer wird – eben durch die beschriebenen Umstände. Für den Endverbraucher könne dies nachteilig sein, denn oft seien OEM-Reifen nicht markiert, sähen also genauso aus wie fahrzeugunabhängige Reifen für den Ersatzmarkt, die unter Umständen eine deutlich bessere Nässeperformance bei geringfügig höherem RoWi böten.

Auch Dierk Möller, Reifentester der AutoBild, erkennt das Problem: „Der Rollwiderstand soll mit allen Mitteln niedrig gehalten werden, um die Reichweite zu verbessern. Das geht häufig voll zu Lasten des Nassgrips und damit der Sicherheit.“ Seitens der Reifenindustrie bemüht man sich um Antworten, um auf Dauer eine bessere Balance hinsichtlich des Zielkonflikts RoWi-Nasshaftung bewirken zu können. Bridgestone zählt zu den wichtigsten OE-Reifenpartnern für Autohersteller. „Im Jahr 2021 machten EV-Reifen bereits einen zweistelligen Prozentanteil des gesamten OE-Reifenangebots von Bridgestone für Pkw aus – seit 2019 hat sich dieser Anteil bereits verdreifacht“, so Bridgestone Managing Director Christian Mühlhäuser. Etablierte Hersteller wissen: Die Qualitätsfrage im Erstausrüstungsgeschäft ist vor allem eine Budgetfrage. „Die Kostenfrage entscheidet“, sagt Massimo Cialone, Chief Compounder Specialist im Hankook Tire ETC. Die Überwindung des Ziel-Konflikts RoWi-Nasshaftung ist laut Cialone technisch möglich, durch die Vergrößerung des Silica-Anteils in der Gummimischung. Allerdings erfordere die Anpassung auch neue kostenintensivere Mischverfahren und hierfür die Anschaffung neuer Kneter.

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Paul Englert testete viele Jahre Reifen für die Autozeitung – wechselte kürzlich zur Motorpresse. 
Foto: Motorpresse
Paul Englert testete viele Jahre Reifen für die Autozeitung – wechselte kürzlich zur Motorpresse. 

Sicht der Autoindustrie

Die Autoindustrie entgegnet zur Kostenfrage, dass vor allem die Erfüllung der Anforderung im Lastenheft gefordert wird und der Preis nur eine untergeordnete Rolle spielt, wenn die Anforderungen – wie in diesem Falle – ohnehin schwierig zu erreichen sind. Hierzu sagt Mattes Reiling, Technisches Projektmanagement e-tron GT (Audi AG): „Im Bereich Reifenabstimmung ist die Erreichung der festgelegten Parameter oberstes Entwicklungsziel in unserer Rolle als Fahrzeughersteller. Wir legen Wert auf Premiumqualität. Das ist unabhängig von der Fahrzeugklasse und dem jeweiligen Antrieb.“

Die Mischexperten der Reifenindustrie berichten den Fahrzeugherstellern keine Details ihrer Rezepturen – was nachvollziehbar ist. Die Automobilhersteller definieren bestimmte Anforderungen wie eben den Nassgriff, das Bremsverhalten, Handling, Agilität. Wie diese umgesetzt werden und welche Mittel dabei zum Einsatz kommen, ist Aufgabe des OE-Reifenlieferanten. Markus Bühl, Abstimmungsingenieur Reifenentwicklung bei der Audi Sport GmbH, bestätigt: „In unserer Rolle als Premium-Automobilhersteller definieren wir gegenüber Reifenentwicklern ein fahrzeugspezifisches Ziellastenheft. Die Erreichung dieser darin festgelegten Eigenschaften mittels einem dafür optimal passenden Reifenaufbau obliegt dem Reifenhersteller.“

Seitens der Fahrzeughersteller wird die „Ungenauigkeit des EU-Reifenlabels“ bemängelt. Vor allem die Unterscheidung zwischen OE-Reifen und den Reifen im Aftermarket sieht man teilweise kritisch. Standardisierte Tests, wie sie für Rollwiderstand und Nasshaftung verwendet würden, seien fehleranfällig, da nur wenige Referenzgrößen definiert seien. Daraus ergeben sich Unterschiede zwischen den Nasshaftungswerten auf dem Label und in der Praxis, formuliert ein Mitarbeiter eines Herstellers gegenüber Gummibereifung und amz. Betrachtet man besonders die batterieelektrischen Fahrzeuge, so ist auffällig, dass diese besonders häufig mit Reifen ausgestattet sind, die „nur“ ein Nasshaftungslabel „B“ erreichen, während Verbrenner hingegen häufig auch „A“-Werte erreichen. Dazu äußert sich Markus Bühl wie folgt: „Durch die gezielte und exakte Abstimmung des Reifens auf ein Zielfahrzeug kann ein Reifen der Nasshaftungsklasse B ein besseres Nassbremsverhalten (Anm. d. Red: auf der Teststrecke) erzielen als ein Reifen der Nasshaftungsklasse A (Anm. d. Red: nach EU-Standardtest).“

Hier verweist man auf die fahrzeugspezifische Abstimmung, welche nicht nur von der Antriebsart, sondern vom getesteten Fahrzeug selbst abhängt. Denn während die Tests mit einer statischen Radlast ausgeführt werden, spielt seitens der Hersteller auch die tatsächliche Achslast während des Bremsmanövers und das Handling während dieser Situation eine Rolle. Auch eine präzise Abstimmung der Fahrassistenzsysteme wie ABS, ESP aber auch aktive Stabilisatoren können direkten Einfluss auf die (Brems-)Performance haben. Daher raten die OE-Hersteller dazu, sich weniger an den EU-Aftermarketlabels als vielmehr an den Herstellerempfehlungen für das jeweilige Automodell zu orientieren. Die vom Hersteller freigegebenen Reifen werden mit Buchstabenkombinationen oder Zeichen auf der Reifenflanke als Originalreifen markiert. So steht „AO“ auf der Reifenflanke für „Audi Original“. Originalreifen für Mercedes sind mit „MO“ markiert, BMW setzt auf einen Stern als Symbol für einen vom Hersteller freigegebenen Reifen.

Reifenhersteller bewegen sich mit ihren Erstausrüstungsengagements in einem Spannungsfeld. Grundsätzlich steht die Reifenindustrie besonders im EV-Segment vor großen Herausforderungen. Beim Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind die Anforderungen der OEMs sehr hoch – im Feld der Elektromobilität in besonderem Maße. „Mit enormem Entwicklungsaufwand und dem Einsatz hochwertiger, teurer Materialien sind Reifenhersteller in der Lage, gleichermaßen gute Ergebnisse bei RoWi und Nassgriff zu erreichen. Doch es geht um Preise, also Kosten“, beschreibt Paul Englert. Gerade die Entwicklung von EV-Reifen sei eine enorme Herausforderung, denn neben einem sehr geringen RoWi müsse das Profil auch sehr stabil sein, um die Last durch die schweren Batterien bewältigen zu können. Den Blick auf weitere Herausforderung schärft Dierk Möller von AutoBild: „Auch hinsichtlich des Fahrgeräuschs werden Anstrengungen unternommen, um die neuen – überzogenen – EU-Regeln und Grenzwerte einhalten zu können. Sicherlich eine sinnvolle Maßnahme bei der aber die sicherheitsrelevanten Anforderungen an den Reifen nicht vernachlässigt werden dürfen. Und auch die Entwicklung hin zu geringeren Profiltiefen sehe ich skeptisch, weil damit die Sicherheitsreserven bei Aquaplaning vermindert werden können.“

Der Zielkonflikt Rollwiderstand-Nasshaftung wird nun über erste Testergebnisse von EV-Reifen in die Öffentlichkeit gespielt. Die Dringlichkeit für die Reifenhersteller entfaltet sich direkt – denn sie sind es, denen von Autofahrer*innen der Auftrag zur Bewältigung exklusiv zugespielt wird. Schlechte Resultate im Rollwiderstand und/oder in der Nasshaftung wirken wie eine Backpfeife für die Reifenentwickler. Zu den erläuterten Hintergründen beispielsweise hinsichtlich des Entwicklungsbudgets für die Erstausrüstung erfahren Käufer*innen von Elektrofahrzeugen erstmal nichts. Die Premiumhersteller der Reifenindustrie begreifen aber auch die Chancen, die sich durch Entwicklungskompetenz und die Weiterentwicklung dieser durch die enge Zusammenarbeit mit den Automobilhersteller ergeben. Das Feld der Elektromobilität wird zum Prestigesegment – herausfordernd, aber auf lange Sicht äußerst lukrativ, denn der Markt wird massiv wachsen. Continental, Bridgestone, Michelin, Goodyear, Pirelli und auch Hankook befinden sich aktuell in der Pole, aufgrund enger OE-Partnerschaften mit den wichtigsten Automobilherstellern im EV-Bereich. Das Rennen ist aber gerade erst eröffnet.

 

 

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Massimo Cialone ist Chief Compounder Specialist im Hankook Tire ETC.
Foto: Kay Lehmkuhl
Massimo Cialone ist Chief Compounder Specialist im Hankook Tire ETC.
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Bridgestone will den Zielkonflikt mittels Technologien wie Enliten meistern. 
Foto: Bridgestone
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